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Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Ich bin derzeit auf Urlaub, und abermals ist das eine schöne Gelegenheit, die politische Landschaft Österreichs ein bisschen abseits des aktuellen Betriebs zu vermessen. Nachdem wir in den vergangenen Wochen je drei herausragende und drei verbesserungsfähige Eigenschaften von ÖVP und Grünen besprochen haben, würde ich nun gern zur größten Oppositionspartei kommen, der SPÖ.
Die hatte es in den vergangenen Jahren nicht immer leicht und sich das über weite Strecken selbst zuzuschreiben – hat aber trotzdem, gerade für eine Oppositionspartei, relativ viel bewegt.
Mitarbeit, Soziales, konstruktive Opposition
Das liegt daran, dass sich die Sozialdemokraten im Gegensatz zur FPÖ nicht sofort in die Fundamentalopposition verabschiedet haben, als es hart auf hart kam und die Pandemie auf das nur mäßig vorbereitete Österreich traf. Es mag eine Fügung gewesen sein, dass mit Pamela Rendi-Wagner zu diesem Zeitpunkt eine Medizinerin und Infektionsspezialistin an der Spitze der Partei stand. Jedenfalls konnten sich die Regierungsparteien während der Corona-Maßnahmen immer wieder auf die Stimmen der SPÖ verlassen – und auf die Unterstützung durch „ihre“ Landeshauptleute in der Umsetzung. Und nicht nur dort: auch, als es um andere Zweidrittelmehrheiten wie das Erneuerbaren-Ausbaugesetz ging, in das die Partei im Gegenzug Ausnahmen für ärmere Mitbürger hineinverhandelte.
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Diese Rolle – das „soziale Gewissen“ der Republik, wäre ohne die SPÖ wahrscheinlich nicht besetzt. Ob man das Thema wichtig findet oder nicht: Fragen, wie viele Kinder täglich ein gesundes Essen auf den Tisch bekommen und ob der Staat dafür zuständig sein soll oder nicht würden in Österreich wahrscheinlich seltener oder überhaupt nicht angesprochen, wenn die Sozialdemokraten sie nicht auf die Agenda setzen würden.
Gleichzeitig hat die SPÖ, drittens, trotzdem recht solide Oppositionsarbeit gemacht. Ob in Serien-Anfragen an die Regierung (etwa, was Kosten der Kabinette und andere Kennzahlen angeht) oder in der U-Ausschuss-Troika mit FPÖ und Neos haben rote Abgeordnete regelmäßig Druck auf die Regierung ausgeübt. Besonders hervorgetan hat sich dabei auch der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil, der per Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof die teilweise Neuregelung des ORF-Stiftungsrats erzwungen hat – nicht ganz zur Freude seiner restlichen Partei, aber medienpolitisch durchaus verdienstvoll.
Realität in Wirtschaft, Schulen und Staat
Auf der anderen Seite würde auch und gerade der wieder in Richtung Regierung drängenden SPÖ ein „Rendezvous mit der Realität“, wie es zuletzt Wifo-Chef Gabriel Felbermayr eingefordert hat, nicht schlecht tun. Ideen für höhere Sozialleistungen, schnellere Arzttermine und weniger Arbeit klingen schön und gut, aber bevor ein Staat etwas verteilt, muss das erst einmal jemand erwirtschaften. Vorrang hat jetzt, dass die Republik auf einen nachhaltigen Budgetkurs zurückkommt und die stagnierende Wirtschaft wieder wächst – erst danach sollte man über staatliche Wohltaten nachdenken.
Einem Date mit der Realität sollte sich die SPÖ auch dringend im Wiener Bildungssystem stellen – wenn es in der Bundeshauptstadt Bezirke gibt, in denen mehr als zwei Drittel der Kinder trotz mehrjährigen Kindergartenbesuches zu schlecht Deutsch sprechen, um dem Unterricht folgen zu können, sollten alle Alarmglocken läuten. Das ist ein soziales, Integrations- und letztlich auch wirtschaftliches Problem, das gerade den Schwachpunkt der SPÖ, den Graben zwischen Wien und dem Rest der Republik, vertiefen könnte; es braucht dringend Aufmerksamkeit.
Zuletzt sollte die SPÖ ihre Lehren aus dem Fall Sebastian Kurz‘ ziehen – dabei hatte er die Verschränkung staatlicher Mittel mit eigenen Zwecken, zum Beispiel im Bereich Inserate, bei Weitem nicht erfunden. Solange die Sozialdemokratie solchen Praktiken nicht abschwört, solange sie selbst „Freundeskreise“ im unabhängigen ORF-Stiftungsrat pflegt, kann man ihre Kritik an Missständen in der Republik mit dem Verweis auf ihre eigenen Schwächen abprallen lassen. Und das wäre für alle Beteiligten ein Schaden.
Herzlich,
Ihr Georg Renner
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