|
|
Liebe Leserinnen, liebe Leser!
|
Das Jahr hat ein bisschen turbulenter begonnen, als es mir lieb ist. Aber es gibt viel zu tun, packen wir es an.
Kurz gefasst: Die Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS sind gescheitert. Karl Nehammer tritt als Bundeskanzler und ÖVP-Chef zurück. Sein Nachfolger an der Spitze der Volkspartei, Christian Stocker, hat deren (und sein) kategorisches Nein zu Verhandlungen mit der „Kickl-FPÖ“ schnell begraben. Schließlich hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen FPÖ-Chef Herbert Kickl mit der Regierungsbildung beauftragt.
|
|
|
|
|
|
|
Somit ist das wahrscheinlichste Szenario für die nächsten Jahre, dass FPÖ und ÖVP die Republik mit einer klaren Mehrheit im Nationalrat regieren, und SPÖ, NEOS und Grüne die Opposition dagegen bilden werden.
Zerlegen wir das, was da in den vergangenen Tagen passiert ist, in drei Teile.
Die gescheiterte Mitte
Erstens, zum Scheitern der Verhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS: Viel kann und muss man dazu nicht sagen, die Parteien spielen das „Blame Game“ über ihre eigenen Kanäle seit Tagen auf und ab. Wem man glaubt und wen man unterstützt, hängt mangels belastbarer Einblicke in die zweieinhalb Monate Verhandlungen weitgehend von der eigenen politischen Position ab.
|
|
Wenn Ihnen dieser Newsletter weitergeleitet wurde, können Sie ihn hier kostenlos abonnieren. Er erscheint jeden Dienstag Nachmittag.
|
|
Als Wähler, der eine solche „mittige“ Koalition dem Grunde nach begrüßt hätte, muss man dieses Spiel auch gar nicht mitmachen – die Lehren, die man aus der ohnehin in ihrer Absolutheit unmöglichen Erkenntnis „die ÖVP/die SPÖ/die NEOS sind schuld, dass das nichts geworden ist“, ziehen könnte, sind ziemlich begrenzt. Tatsache ist, dass es den drei Parteien nicht gelungen ist, untereinander das Vertrauen herzustellen, das für eine belastbare Einigung erforderlich gewesen wäre.
Das kann man akzeptieren, ohne gleich jemandem allein die Schuld daran umzuhängen: Keine Partei ist gezwungen, an einer Koalition teilzunehmen. Es ist halt nichts geworden. Ich würde mir allerdings wünschen, dass sich die Chefverhandler noch einmal zusammensetzen, wenn sich der Staub ein wenig gelegt hat, um den Prozess dieser zweieinhalb Monate gemeinsam zu reflektieren. Mehrparteienkoalitionen werden in Zukunft tendenziell häufiger möglich oder vielleicht sogar nötig sein – da könnten die Learnings, wie man so etwas verhandelt bzw. woran man gescheitert ist, für alle Beteiligten wertvoll sein.
Nehammer geht aufrecht
Zweitens, die Wende in der ÖVP: Nach übereinstimmenden Berichten dürfte es der „Wirtschafts“-Flügel der Partei, genauer gesagt der Wirtschaftskammerflügel gewesen sein, der das Aus für Nehammer besiegelt hat, nachdem dessen Dreierverhandlungen gescheitert waren. Dass man danach Christian Stocker als Platzhalter aus dem Hut hat zaubern müssen, zeigt überdeutlich, wie wenig Plan hinter diesem Putsch gesteckt haben kann. Für zukünftige Palastrevolten wäre jedenfalls empfehlenswert, gleichzeitig eine tragfähige Variante für das Nachher zu haben – besonders in einer sensiblen Situation und vor allem wenn man sich weiter als staatstragende Partei verstehen möchte.
Über die inhaltliche Beurteilung von Nehammers Kanzlerschaft – besonders über seinen Hang, viel Steuergeld zu verteilen, das die Republik nicht hatte – habe ich an dieser Stelle schon geschrieben; politisch bleibt sein Vermächtnis zum einen, dass er sich außen- und europapolitisch weit stärker hinter der Ukraine und gegen Russland positioniert hat, als es unsere anachronistische Neutralität zwingend nötig gemacht hätte. Zum anderen ist Nehammers Aufrichtigkeit anzuerkennen, dass sein vor der Wahl versprochenes „Nein“ zu Herbert Kickl nach der Wahl ein Nein blieb.
Ein Befund, der Christian Stocker nicht zukommen wird. Auch, wenn damit zu rechnen war, dass sich die ÖVP wieder Richtung blau öffnen würde, sollten ihre Dreierverhandlungen scheitern: Dass der bisherige Generalsekretär sein mehrfach versichertes Wort dem Wähler und der Öffentlichkeit gegenüber nicht einfach nur bricht, sondern die Partei nun persönlich die Verhandlungen mit dem landauf, landab als „Sicherheitsrisiko“ titulierten Kickl führt, ist ein starkes Stück, über das man nicht hinwegsehen sollte. Was Stockers Wort – er hätte ebenfalls zurücktreten oder zumindest anderen an der Parteispitze den Vortritt lassen können – wert ist, kann jetzt jeder Wähler selbst beurteilen; allein deswegen kann seine Zeit an der VP-Spitze kaum von langer Dauer sein.
Die ÖVP ist der einzige Weg Kickls an die Macht
Bleibt drittens, was zu den Verhandlungen zwischen FPÖ und ÖVP zu sagen ist: Wie auch schon die Dreierkonstellation stehen die beiden größeren Parteien neben kleineren und größeren Baustellen zuallererst einmal vor dem Scherbenhaufen des Budgets bei gleichzeitiger Rezession. Obwohl sich das Angebot der Freiheitlichen an die Volkspartei vom Oktober dahingehend grundsätzlich ok liest, bleibt die Frage, ob eine populistische Partei geeignet ist, die notwendigen einschneidenden Maßnahmen zu ergreifen, die die Republik jetzt braucht. Jedenfalls sollten sich die Verhandler ein Beispiel an der ersten Zusammenarbeit dieser Art Anfang des Jahrtausends unter Wolfgang Schüssel nehmen, die immerhin eine grundsinnvolle Pensionsreform zustande gebracht hat, ohne die die Misere heute noch viel größer wäre.
Selbst wenn der Volkspartei nach der Kammer-Intervention zugunsten der Freiheitlichen vor allem an Wirtschaft und Sozialreformen gelegen sein dürfte: Die selbsternannte „Europapartei“ wird in den Verhandlungen ihr Möglichstes geben müssen, die heimische EU- und Sicherheitspolitik gegenüber den Freiheitlichen abzusichern. Das wird mit einem potenziellen Kanzler Kickl, der dann mit vollem Stimmrecht im EU-Rat sitzen würde, schwer genug. Doch den – auch von der ÖVP mitgetragenen – Konsens für Sanktionen gegen Russland, für die Unterstützung der Ukraine, für die europäische Aufrüstung sowie die Rechtsstaats- und Freizügigkeitsmechanismen innerhalb der Union sollte man nicht auf dem Altar des Machterhalts opfern.
Der einzig realistische Weg der Freiheitlichen an die Macht führt über die Mehrheit mit der ÖVP – und die sollte sich jetzt schnell im Klaren sein, welchen Preis sie für ihre Unterstützung verlangt.
Auf ein gutes Neues,
Ihr Georg Renner
|
|
|
© Satzbau Verlags GmbH
|
|
|
|