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Liebe Leserinnen, liebe Leser!
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Ich weiß, an Zeitenwenden, Zäsuren und ähnlichen Zeichen herrscht derzeit kein Mangel. Doch während der Rest der Welt nach Washington schaut, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit noch einmal kurz nach Eisenstadt lenken, wo sich ein interessanter Kontrast zum Machtwechsel in den USA und dem folgenden „day one“-Verordnungsregen, dem Zeichen der enormen Macht des US-Präsidenten, auftut.
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Auf den ersten Blick mag bei der Landtagswahl am Sonntag nicht viel passiert sein: Hans Peter Doskozil wird Landeshauptmann bleiben, seine bisher mit absoluter Mehrheit regierende SPÖ wird nur einen kleinen Teil ihrer Macht an einen Koalitionspartner abgeben müssen. Für diese Rolle kommen FPÖ, ÖVP und Grüne infrage, und Doskozil hat eine gute Verhandlungsposition. Ich will der sicher ausnehmend spannenden burgenländischen Landespolitik nicht vorgreifen, aber ich wage die Prognose: radikal ändern wird sich im Land nicht viel.
Neben der Diskussion der „Doskonomics“ – Kollege Rössler hat sie unlängst für DATUM eingefangen – ist ein wenig untergegangen, dass da am Sonntag ein anderer Prozess seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat; eine Zäsur, sozusagen: Zum ersten Mal in der Geschichte der Republik Österreich hat keine Partei im Bund oder einem der neun Landtage eine Absolute (mehr als die Hälfte der Sitze im Landtag) oder auch nur das „Blockadequorum“ (exakt die Hälfte). Anders gesagt: Keine Partei kann mehr die Politik eines Landes allein bestimmen – und wenn sich die anderen Parteien zusammentäten, könnten sie sie überstimmen.
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Das ist eine relativ junge Entwicklung: Auch, wenn die Absoluten in den Ländern schon einmal, in der ersten Hochphase der FPÖ unter Jörg Haider in den 1990ern nach und nach gefallen sind, ist das alte rot-schwarze System nach der blau-schwarzen Koalition ab 2000 schnell zurückgeschnalzt; noch vor 20 Jahren hatten fünf der neun Länder, darunter die großen Brocken Niederösterreich und Wien, absolute Mehrheiten.
Das Ende der Stabilität
Meine Vermutung wäre: Ganz egal, wie es im Bund weitergeht, mit diesem rot-schwarzen Machtsystem ist es jetzt endgültig vorbei. Die Gründe dafür sind vielfältig – ich habe, ähm, ein Buch darüber geschrieben – dazu gehören u. a.:
- Das weltweite Ende des Konzepts „Stammwähler“
- Die Diversifizierung des Mediensystems, die es Parteien ermöglicht, auch ohne klassische Plattformen potenzielle Wähler zu erreichen
- Weiterentwickelte Grundrechte – nicht zuletzt europäische –, die die Bevorzugung einzelner Parteien verbieten und etwa offene Ausschreibungen, Zugang zu Informationen und Oppositionsrechte festschreiben
- Die gesellschaftlichen und geopolitischen Erschütterungen der vergangenen zehn Jahre von Migration über Covid bis zur Inflation, die einerseits echte Versäumnisse offengelegt haben und andererseits für alle Regierenden ungünstig waren
Das Ergebnis ist nunmehr in allen Bundesländern dasselbe: Das Zeitalter der Sonnenkönige und Landesfürsten, die dank der sicheren Mehrheiten ihrer Parteien im Wesentlichen ungestört „durchregieren“ und angelegentlich auch dem Bund Wünsche diktieren konnten, ist vorbei. Auch wenn Doskozil, zum Beispiel, Landeshauptmann bleibt: Forthin wird er den Gedanken im Nacken haben, der Landtag könnte ihn per Misstrauensantrag abwählen, sollte er es sich mit seinem Koalitionspartner vertun.
Auch, wenn mit diesen Entwicklungen ein Stück Stabilität verlorengeht: Es ist eine gute Entwicklung. Die Notwendigkeit, Koalitionen und damit eine breite Unterstützerbasis zu suchen, um an der Macht zu bleiben, ist ein sehr passables Mittel gegen Machtmissbrauch und Korruption – und sollte langfristig bessere Ergebnisse hinsichtlich Freiheit, Wohlstand und Sicherheit möglichst vieler Bürger bringen als absolute Systeme. (Lesetip: Alastair Smith und Bruce Bueno de Mesquita beschreiben das überzeugend in ihrem „Dictator’s Handbook“.)
Wenn wir nun doch noch kurz in die USA oder andere von „first past the post“ geprägte Demokratien schauen, kann sich Österreich glücklich schätzen, in den Nullerjahren nicht den damals lautstark eingeforderten Weg eines Mehrheitswahlrechts eingeschlagen zu haben. Im Zeitalter von Social Media driften Zweiparteiensysteme in kontraproduktive Extreme – die Verhältniswahl und die Notwendigkeit, auch die Mitte mitzunehmen, ist dafür ein willkommenes Korrektiv.
Demokratie ist messy
Was allerdings auch stimmt – und wie wir im Bund die vergangenen Wochen gesehen haben: Verhältnisdemokratie und Mehrheitssuche ist messy. Gut möglich, dass Österreich noch weitere chaotische Monate oder Jahre voller Brüche, Neuwahlen, Neugründungen, Rücktritte und Aufstiege bevorstehen, bevor wir auf allen Ebenen in dieser neuen, dynamischeren Republik ankommen.
Ein Beispiel aus der Parteipolitik: Die SPÖ wird sich in den nächsten Monaten überlegen müssen, ob sie sich weiterhin einer Kooperation mit der FPÖ auf Bundesebene komplett verschließt – solange die ÖVP als einzige mittelgroße Partei Koalitionsoptionen in alle Richtungen hat, wird sie eher ihre Inhalte durchbringen können als ihre rote Konkurrenz.
Oder das Parlament: Solange sich die Abgeordneten dort für komplexe Gesetzgebungsvorhaben der Infrastruktur der Ministerien bedienen, statt entsprechende Ressourcen selbst aufzubauen, wird die Republik während Koalitionsverhandlungen weiter stillstehen.
Spätestens am Sonntag hat eine neue Zeitrechnung unserer Republik begonnen. Höchste Zeit, sich darauf einzustellen.
Herzlich,
Ihr Georg Renner
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