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  Georg Renner
Liebe Leserinnen, liebe Leser!


Ich weiß, es ist gerade verführerisch, sich mit dem Zustand der SPÖ(s) zu beschäftigen oder mit dem Aggregatzustand des Dieselprivilegs unter der scheidenden Koalition. Aber die FPÖ hat vor einigen Tagen ihr Wahlprogramm vorgelegt, und weil alles darauf hindeutet, dass sie in etwas mehr als einem Monat zumindest die meisten Mandate im neuen Nationalrat stellen wird, verdient das durchaus genauere Betrachtung. 

Zunächst einmal muss man festhalten, dass das ganze Programm schon allein finanzpolitisch eine Geisterbahnfahrt ist – links und (vor allem) rechts sollen Steuern sinken, neue Förderungen verteilt und staatliche Stellen geschaffen werden, ohne dass auch nur ein Hauch von Finanzierung für all die freiheitlichen Segnungen angedacht wäre. Damit steht die FPÖ leider nicht allein, aber das Ausmaß fiskalischer Verantwortungslosigkeit in diesem Programm ist beträchtlich. Das ist bei einer populistischen Partei nicht überraschend – aber wir sollten es im Kopf behalten, wenn Herbert Kickl und die Seinen demnächst wieder auf staatstragend machen wollen.
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Aber lassen wir kleine und große Unsinnigkeiten (der Satz „Russisches Gas wird weiterhin einen wichtigen Beitrag zu unserer Versorgungssicherheit leisten“ dürfte gute Chancen auf den Neusprech-Award 2024 haben) sowie positive Aspekte (wie das klare Bekenntnis zum Ausbau erneuerbarer Energie und des öffentlichen Verkehrs) einmal beiseite und widmen uns dem wahrscheinlich größten Punkt des blauen Programms: dem fundamentalen Umbau unserer Republik.

Volksinitiative gegen Volkskanzler per Volksbegehren
Es dürfte kein Zufall sein, dass die „Volksinitiative“ der erste konkrete Programmpunkt in dem 92-seitigen Aufriss ist: Die Freiheitlichen wollen, dass ein Volksbegehren, das von mindestens vier Prozent der Wahlberechtigten (etwa 250.000 Menschen) unterstützt wird, automatisch zu einer Volksabstimmung führen soll. Analog soll ein solches Begehren auch einen Misstrauensantrag gegen „eine unfähige Regierung oder unfähige Regierungsmitglieder“ beschließen können. 

Das wäre eine massive Kräfteverschiebung innerhalb unserer Verfassung: Aktuell ist unsere Demokratie ja nach dem Repräsentationsprinzip aufgestellt – das Volk wählt Mandatare, die Gesetze schaffen oder aufheben, die Regierung bestimmen bzw. abwählen und so weiter. Eine verbindliche Volksabstimmung oder unverbindliche Volksbefragung findet nur dann statt, wenn die Abgeordneten das vorher absegnen. Von sich aus kann das Volk im Bund eben nur Volksbegehren stellen – deren maximale Wirkung ist, dass sie im Nationalrat diskutiert werden müssen. 

Jetzt kann man sich ja durchaus wünschen, dass es in diesem System mehr Möglichkeiten gäbe, die durch Partei- und andere Strukturen relativ starre politische Willensbildung durch direktdemokratische Instrumente zu korrigieren, oder, sagen wir, „anzureichern“. (Eine interessante Variante wäre etwa, die Volksbefragung, mit der die Meinung der Bürgerinnen und Bürger eingeholt wird, ohne den Gesetzgeber zu binden, zum Minderheitenrecht im Nationalrat zu machen.)

Komplexität braucht Eliten
Aber der freiheitliche Vorschlag – der übrigens schon in ähnlicher Form im türkis-blauen Regierungsprogramm von 2017 stand, allerdings mit einer Hürde von 900.000 Unterschriften und erst nach Freigabe durch den Verfassungsgerichtshof – führt zu weit. 

Die vernetzte Welt von heute ist so komplex, dass es mehr denn je Mittler zwischen Masse und Gesetzgebung braucht: Politikerinnen und Politiker, die ihre Entscheidungen für oder gegen ein Gesetz (oder für oder gegen Minister) gut informiert abwägen. Nicht nur mit Hinblick auf den Volkswillen, sondern eben auch gegen budgetäre Zwänge, nationale Interessen und internationale Verpflichtungen. 

Bei allem, was man gegen Parteien und ihre Apparate sagen kann: Es ist ihre Stärke, dass sie die Komplexität der Welt in eine breite Auswahl auf dem Stimmzettel transformieren. Und der Deal ist: Wenn sie einmal gewählt sind, können sie in der Regel eine Legislaturperiode lang arbeiten. Das Recht der Republik geht vom Volk aus, es setzt es nicht direkt. 

Die repräsentative Demokratie hat Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der wohlhabendsten, sichersten Staaten der Welt gemacht. Dieses System zugunsten einer Zuruf-Demokratie aufzugeben, in der Regierungsmitglieder jederzeit fürchten müssen, von ein paar hunderttausend Menschen, die per Handy ihren Unmut in einem Volksbegehren kundtun, in einen neuen Wahlkampf gegen ihre Abberufung gestürzt zu werden, löst keine Probleme. Im Gegenteil, es würde Oberflächlichkeit, Schlagzeilen-Denken, Emotionalität und Boulevard-Populismus noch mehr befördern – Probleme, mit denen die Republik ohnehin schon ringt. 

Noch schlimmere Folgen hätte das im Gesetzgebungsprozess, der im jetzigen System ein aufwändiges Ringen zwischen Parteien und Interessenvertretern, zwischen nationalen und internationalen Gegebenheiten darstellt. Das auf Zuruf von Laien zu tun, würde bedeuten, diese Komplexitäten immer und immer wieder erklären zu müssen – was abseits der Anfälligkeit für Populismen eine enorme Verschwendung politischer Aufmerksamkeit für die wirklich wichtigen Fragen unserer Zeit wäre. Angesichts der Lage Österreichs und der Welt werden in den nächsten Jahren eher mehr seriöse Regierungsarbeit brauchen und weniger Wahlkampf, nicht umgekehrt.

Lassen wir das doch lieber.

Herzlich,
Ihr Georg Renner
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